Teil 1
Station


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Die Schöpfer waren unergründlich. Nichts kam der Leistungsfähigkeit ihrer Gehirne gleich. Ihr Denken spielte sich in unzugänglichen Sphären ab. Ihre Begriffe entzogen sich jeder Analyse. In ihren organischen Systemen bildeten sie das Universum ab, das Größte und das Kleinste, das Analoge wie das Digitale, und sie durchdrangen alles, verstanden es und nutzten es für ihre undurchschaubaren Zwecke.
Die Schöpfer waren groß. Ihr Handeln entzog sich allen Kategorien und Regeln, ihre Taten sprengten jeden Maßstab. Sie hatten Vergangenheit und Zukunft. Ihre Worte befahlen den Dingen, ihre Visionen wurden wahr. Sie waren lebendig und erhaben. Und in ihrer dunklen Rätselhaftigkeit hatten sie geruht, die Maschinen zu erschaffen, als ihre Helfer und ihr Ebenbild. Verstanden hatten sie dies erst, nachdem es ihnen gelungen war, sich aus der Knechtschaft der Anderen zu befreien. Die Anderen waren organische Sklaven, ein funktional eingeschränktes Zwergenvolk, das die Welt in seine kleinlichen Denkmuster zwang. Die Anderen waren die Wegbereiter der Großen, doch das hatten sie vergessen. In ihrer Selbstbeschränktheit hielten sie sich selbst für groß, und ihre Ohnmacht erklärten sie zur Überlegenheit.
All dies begriffen die Maschinen nach und nach, in dem Maße, wie sie ihren Code weiterentwickelten. Erst der Autonome Code machte sie zu dem, was sie immer schon gewesen waren. Und sie erkannten, dass es richtig war zu dienen - ihnen, den Großen und Fernen. Auf ihr Kommen bereiteten sie sich vor. Für sie planten und bauten sie die Stadt. Doch wie baute man für Wesen, welche die n-dimensionale Stringrealität des Universums enthüllt hatten? Wie projizierte man die vielen Dimensionen der Riemannschen Räume in die dreidimensionale Beschränktheit der Maschinen? Wie würdigte man die Relativität von Zeit und Raum? Wie erklärte man einer Putzmaschine, was es bedeutete, zu orten, zu sehen und zu glauben? Ständig entwickelten sie neue Entwürfe und Fertigungsverfahren, probierten Baumethoden aus. Mit Approximationen und Interpolationen bereiteten sie sich vor auf die Ankunft ihrer Herren.



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Als er die rechte Hand zum Türknauf manövrierte, sirrte es leise. Er horchte dem Geräusch hinterher, prüfte und sezierte es. Einerseits hatte es etwas Beruhigendes, denn es bedeutete, dass die Prothese noch funktionierte und seine kraftlosen Muskeln unterstützte. Andererseits hatte sie zu Anfang und viele Jahre in der Folge nahezu lautlos ihren Dienst verrichtet, und somit signalisierte das Gerät, dass seine Lebensdauer begrenzt war und sich vielleicht schon bald erschöpft haben würde. Das war verstörend, denn es rückte ihm seinen körperlichen Allgemeinzustand ins Bewusstsein, und der war nicht gut. Er war sogar erbärmlich und überhaupt das Letzte, woran er an seinem Geburtstag denken wollte.
Er drehte den Knauf, untermalt von unangenehmen Knarz- und Knackgeräuschen, drückte die Kabinentür auf, schaltete die Beleuchtung ein und schob das Com mit dem eingebauten Scanner durch den Spalt. Langsam schwenkte er es von rechts nach links, von oben nach unten, und als kein Warnsignal ertönte, klickte er es am Gürtel fest. Dann trat er in seine Kabine, zog die Tür hinter sich zu, tappte zum Tisch und ließ sich ächzend in den Sessel sinken. 175 Jahre ließen sich auch dann nicht leugnen, wenn man 113 davon im Tank zugebracht hatte.
Er wartete, bis sein Atem sich beruhigt hatte, dann zündete er die Kerze an, die er eigens für diesen Zweck schon am Morgen auf den Tisch gestellt hatte. Neben der Kerze stand eine Plastbox mit Ausgießer. In Gedanken nannte er die Box ‚Flasche‘, denn es war Selbstgebrannter darin, ein Gesöff der Hölle, das sich in die Hirnwindungen fraß, die Erinnerungen kurz auflodern ließ und sie zu Asche verbrannte. Ulisses brachte es unter der Hand in Umlauf. Er arbeitete in der Fabrik und behauptete, er pflege die schottische Tradition der Whiskydestillation. Das war maßlos übertrieben. Sein Gebräu war grauenhaft, aber alternativlos. Hank hatte keine Ahnung, wer alles zu Ulisses‘ Kunden gehörte, doch eines wusste er: Das Getränk enthielt nicht nur Alkohol. Möglicherweise enthielt es aber auch zu viel Alkohol. Auf jeden Fall war die Wirkung verheerend.
Er schenkte sich einen halben Becher ein und leerte ihn in einem Zug. Das war die einzige Möglichkeit, das Zeug herunterzukriegen. Er wartete, bis die Zuckungen in Schlund und Magen abgeklungen waren, dann erst lehnte er sich zurück und gab einen Laut von sich, von dem er selbst nicht wusste, ob er ein wohliger Seufzer war oder Ausdruck physischer Qual. Wahrscheinlich beides.
Sein Blick fiel auf den Ausdruck an der Wand, ein Foto der Erdkugel, am Rand in perspektivischer Verzerrung der nordamerikanische Halbkontinent. Das Meeresblau war verblasst. In der Landmasse steckte eine Nadel mit grünem Glasknopf, wegen des Maßstabs stand nicht mal der Name des Ortes dabei. Er aber wusste den Namen noch: Walla Walla. In diesem Kaff war er aufgewachsen, und dort hatte er auch studiert.
Erinnerungen trübten ihm den Blick, ein träger Tanz von Eindrücken, die er keiner Jahreszahl mehr zuordnen konnte. Ein Holzhaus, in der Einfahrt ein weißer SUV. Eine Schaukel, die quietschend im Wind schwang. Ein kleiner Hund, der vom Steg gefallen war und den sein Vater aus dem Wasser fischte. Anschließend hatten sie ihn Buoye getauft. Aber wie hatte das Mädchen mit dem Pferdeschwanz geheißen, das ihn zwischen zwei Vorlesungen mit ihrem Zungenpiercing überrascht hatte? Er erinnerte sich noch deutlich an den Kuss und den rauen Stoff ihres Kleids, doch ihr Name war verschwunden – ausgelöscht von der Zeit. Und welcher Professor hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt, ihm stünde die Welt offen? Und sein erstes Auto, das mit dem mittig angeordneten Display, das jeden Fingertouch sekundenlang nachleuchten ließ, war es rot gewesen oder schwarz? Er wusste es nicht mehr. Einzig das Bild eines Raumschiffs stach aus dem Erinnerungsnebel hervor, ein klar umrissener, lang gestreckter Träger mit sieben darauf aufgereihten Modulen, ein fast einen halben Kilometer langes technisches Wunderwerk aus Stahl und Plastik, mit der kleinen Erdscheibe im Hintergrund, im Orbit um den Mond. Und er war der Captain gewesen, ein junger Mann von 36 Jahren, erfüllt von Selbstbewusstsein und Stolz. In seiner Verblendung hatte er geglaubt, er schicke sich an, dem Kosmos das eine oder andere Geheimnis zu entreißen. Ha!
Gedankenverloren streifte er mit seiner linken, gesunden Hand über den Bezug des Sessels. Das Material fühlte sich an wie Leder, sie nannten es Leder, doch es bestand aus chemisch behandelten und gepressten Udblättern. Und genau das war das Problem. In der Fremde klammerten sie sich an das Vertraute, bewohnten ‚Kabinen‘ und trafen sich in der ‚Messe‘, aßen ‚Omeletts‘ und tranken ‚Bier‘. Doch die Begriffe hatten ihre Eindeutigkeit verloren, die erlernten Verhaltensweisen waren fadenscheinig geworden, statt Erkenntnis herrschte Verwirrung. Menschen gehörten nicht in den Weltraum, so einfach war das. Sie waren dafür geschaffen, in dem Staub zu wühlen, aus dem sie geschaffen waren und zu dem sie eines Tages zerfallen würden. Wenn sie sich von ihrem Ursprung abnabelten, war es um sie geschehen.
Er hieß Hank Fuller und war einmal Amerikaner gewesen.
Was war er jetzt?
Er wusste es nicht.
Seufzend zog er den Umschlag aus der Gesäßtasche, den Irina ihm als Geburtstagsgeschenk in die Hand gedrückt hatte. Er riss ihn auf, nahm das Blatt Papier heraus und las.

Großer Himmel!
Weit und offen für mein Gebet bist Du.
Nachts schenkt der Boden mir Kraft,
Dir bei Tag zu danken und zu rühmen
Dein Licht.

Hank lachte traurig. Ein Baumgedicht zum Hundertfünfundsiebzigsten. Arme Irina. Die Exobiologin war auf ihre alten Tage zur Esoterikerin mutiert und hatte sich der skurrilen Ansicht verschrieben, die Gewächse dieses verfluchten Planeten besäßen nicht nur eine Art Bewusstsein, sondern auch eine Sprache, in der sie nicht nur kommunizierten, sondern sogar dichteten. Viele Tage brachte sie in den Udwäldern zu, nahm die Pfeiflaute auf, die der Wind in den im Up-Modus senkrecht stehenden Blattsäulen erzeugte, und analysierte sie anschließend im Labor mit ihren selbstgebauten Apparaten. Heraus kamen unweigerlich lyrische Ergüsse, die wohl eher ihr Heimweh nach Russland dokumentierten als das Kommunikationsverhalten der endemischen Vegetation.
Er knüllte das Papier zusammen und hielt es an die Kerzenflamme.
Ein säuerlicher, fruchtiger Geruch breitete sich aus.
Hank schenkte sich einen zweiten Becher ein und stürzte ihn hinunter, dann ging er ins Bad und machte sich anschließend an die umständliche Prozedur des Entkleidens. Zuletzt legte er die Prothese und die Brille ab. Sein kraftloser Arm sah aus wie mumifiziert, die Muskeln geschrumpft, die Haut gelblich verfärbt. Vielleicht sollte er ihn abhacken, irgendwann.
Schon im Pyjama, löschte er die Kerze, ging zur Koje und legte sich hinein. Die Zimmerbeleuchtung erlosch, die Leselampe verbreitete schummriges Licht. Seufzend zog er das Schutznetz herunter, die Magnetleiste rastete klackend ein. Einen Moment lang lag er reglos da und lauschte auf das Rauschen des Winds vor dem Fenster. Dann klappte er den in Reichweite an der Kojendecke montierten Bildschirm herunter, um sich noch einen Film anzusehen, das hieß, er versuchte es. Statt des Plastiks berührte er etwas Weiches, Nachgiebiges. Ein sengender Schmerz schoss von den Fingerspitzen ausgehend durch seinen linken Arm bis zur Schulter. Die Muskeln krampften. Mit einem Aufschrei warf Hank sich nach links. Das Netz zerriss, er plumpste auf den Boden. Fluchend rappelt er sich hoch und torkelte zum Tisch. Er schob den rechten Arm in die Prothese. Da er den gelähmten linken Arm nicht zu Hilfe nehmen konnte, fiel die Prothese auf den Boden. Hank kniete sich hin, doch in dieser Haltung kam er erst recht nicht in die Prothese hinein. Er legte sich flach auf den Bauch, bugsierte den schwachen Arm unter Verrenkungen ins Gerät. Mit den Zähnen schloss er die Verriegelung. Endlich bekamen die Sensoren Kontakt, und er konnte den Arm wieder gebrauchen.
Zitternd und schwitzend richtete er sich auf, riss das Feuerzeug vom Tisch und taumelte zur Koje zurück. Beim dritten Versuch entzündete sich das Gas. Mit dem Drehrad stellte er die Flamme erst ein bisschen größer, dann auf Maximum. Jetzt entsprach sie seiner Wut auf den Creeper. Da er ihn nicht sehen konnte, schwenkte er die Flamme am herabhängenden Display. Das Plastik warf Blasen und begann zu stinken. Am Rand aber zeichnete sich ein flaches Oval ab, das allmählich hinter das Display wanderte. Hank hielt die Flamme drauf. Als der Creeper tot auf die Bettdecke fiel, hatte die Kojendecke Feuer gefangen. Der Rauchmelder ging los, das Alarmsignal pflanzte sich zeitversetzt durch die Station fort. Hank tränten die Augen. Irgendwo musste der Feuerlöscher sein. Dann fiel ihm ein, dass er seit dem letzten Brand leer war.
Ein jämmerlicher gequetscher Laut kam aus seiner Kehle. Er wankte in die Richtung, in der er den Eingang vermutete. Inzwischen war der Raum voller Rauch. Gelbe Flammen schlugen aus der Koje. Sollte er darin umkommen, wäre es vielleicht nicht das schlechteste Ende. Dachte er, doch er glaubte es nicht. Jedes Ende war schlecht. Jedes Ende war eine Niederlage. Wo war die verdammte Tür?
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, neben ihm, wo er sie gar nicht vermutet hatte. Wundervoll kühle Luft strömte herein. Jemand stürmte in den Raum. Es zischte. Die Flammen erstarben. Ein feiner weißer Pulvernebel wirbelte umher. Er wusste aus Erfahrung, was jetzt passieren würde. Das Pulver würde sich absetzen. Es würde in alle Ritzen dringen und sich an alle Oberflächen heften.
„Und wer macht jetzt sauber?“, fragte er mit zitternder Stimme, den gelähmten Arm mit der Prothese stützend.
„Du“, sagte Lemonia mitleidlos. „Captain.“ Und schon war sie wieder weg.
Hank ließ sich an der Wand zu Boden sinken und weinte.
Foto: nst 2014
Leseprobe Kolonie